Der letzte Schritt – Das Geständnis

Unaufhörlich tropfte der Regen durch das Loch im maroden Dach des kleinen Bushäuschens. Marvin zog sich seine Kapuze über den Kopf und machte einen Schritt zur Seite, um nicht noch nasser zu werden als er ohnehin schon war. Er sah auf sein Smartphone. 11.52 Uhr. Der Bus sollte jeden Moment kommen. Er würde einsteigen und nur wenige Stationen weiterfahren, um Joey zu treffen. Wie immer, eigentlich. Doch heute, da würde es kein „wie immer“ geben. Vielleicht sogar nie wieder.
Marvin hatte Joey extra geschrieben, dass er ihm etwas Wichtiges sagen muss, damit er keinen Rückzieher mehr machen kann. Nicht schon wieder. Diesmal würde er durchziehen und Joey sagen, dass er ihn mochte. Wie sehr er ihn mochte, auf eine Art, die ihm selbst neu war.
„Steh endlich dazu!“, hatte Natascha gestern noch zu ihm gesagt, als sie und Marvin von der Schule nach Hause gegangen waren. Er war gerade dabei gewesen, die so verhängnisvolle Nachricht per WhatsApp einzutippen. Von allen Freunden um ihn herum kannte sie ihn am allerlängsten. Natascha hing öfter mit ihm und Joey herum. Außerdem wohnte sie in der Wohnung gleich unter Marvin. Daher war ihr auch nicht entgangen, dass sich seit den letzten Sommerferien etwas zwischen den beiden verändert hatte. Mal abgesehen von Marvins verspätetem Stimmbruch und Joeys´ noch kläglichem Versuch, sich einen Bart stehen zu lassen.
„Was ist, wenn er es anders sieht?“, hatte Marvin sie gefragt, und im Vorbeigehen – immer noch mit dem Smartphone in der Hand – einen kleinen Stein an den Rand eines Zaunes gekickt. „Dann ist die Freundschaft vorbei.“
„Scheiß dich nicht ein und schick die Nachricht endlich ab! Dass er auch was von dir will, sehen alle, außer dir.“
Warum musste Natascha eigentlich immer so direkt sein? Außerdem, sie hatte leicht reden. Sie hatte bereits mit 14 ihren ersten Freund gehabt, wenn man ihre Kindergartenbeziehung nicht mitzählt. Marvin war jetzt 16 und hatte noch gar keine Beziehung vorzuweisen. Vielleicht war er einfach nicht gut genug. Vielleicht würde er immer noch allein sein, selbst wenn er 20, 30 oder sogar noch älter wäre.
Der Bus kam brummend zum Stehen und die Tür öffnete sich. Marvin hielt dem Fahrer seine Busfahrkarte entgegen, die dieser grummelnd als gültig bestätigte. Heute, an einem Samstag, war der Bus fast leer. Eine ältere Dame saß im vorderen Bereich und starrte aus dem Fenster. Auf dem Vierer dahinter hockten zwei Mädchen, die sich In-Ear-Kopfhörer teilten und über irgendwas lachend amüsierten. Marvin mochte solche Situationen nicht. Er hatte dann immer das Gefühl, dass es um ihn ging, auch, wenn es nicht stimmte.
Ohne Vorwarnung setzte sich der Bus in Bewegung. Marvin rettete sich mit einem Ausfallschritt und setzte sich dann auf einen der Sitze weiter hinten, sodass er der Hintertür am nächsten war.
Er erinnerte sich an eine Situation, in der sie zu dritt in die Stadt gefahren waren, um ins Kino zu gehen. Sie hatten auf der hintersten Bank gesessen und sich Tiktoks auf Joeys Smartphone angesehen.
„Ist was?“, hatte Joey ihn unvermittelt gefragt, da er mit den Gedanken, wie so häufig, sehr bei sich geblieben war. Auch damals hatte Marvin nichts sagen wollen und nur mit den Schultern gezuckt. Es war ihm irgendwie peinlich.
Natascha, die fast immer wusste, was mit ihm los war, hatte wissend eine Augenbraue hochgezogen. Joey, der zwischen den beiden gesessen hatte, war ihr Blick nicht aufgefallen. Marvin allerdings schon.
Seufzend hatte er sich geschlagen gegeben. Wenn er nichts gesagt hätte, hätte sie es getan. Warum war er nochmal mit ihr befreundet? „Wenn ich mir diese Leute ansehe, fühle ich mich noch unscheinbarer als sonst.“
„Ja, geht mir genauso“, hatte Joey zu seiner Verwunderung geantwortet. Er hatte doch gar keinen Grund so zu denken.
Als Natascha und er am Ende des Abends von der Bushaltestelle aus nach Hause gegangen waren, hatte sie das Thema noch einmal aufgegriffen: „Siehst du, ihr passt wunderbar zusammen.“
„Wieso?“, hatte Marvin gefragt.
„Ihr habt dieselben Komplexe.“
Der Bus hielt an und die beiden Mädchen stiegen kichernd aus. Eine Familie mit einem kleinen Jungen kam hinzu und setzte sich in den anderen Vierer. Zwei Stationen noch, dann wäre er bei Joey und würde mit ihm reden. Sollte etwas nicht so gut – oder aber sehr gut laufen, was er nur leise zu hoffen wagte, würde sein Vater ihn abholen. Dann musste er wenigstens nicht heulend oder aufgeregt und dafür viel zu früh mit dem Bus zurückfahren.
Beim gestrigen Abendessen hatte er seinen Eltern alles erzählt. Oder besser, er hatte sich ausgesprochen ungeschickt selbst verraten. Marvin hatte sich lediglich heimlich Tipps von ihnen holen wollen, weil sie nun mal schon sehr lange zusammen waren. Nataschas Ratschläge waren zwar gut gemeint, ihr Selbstbewusstseinslevel war jedoch auch deutlich höher als seines. Eigentlich sogar höher als das der meisten, die er kannte.
„Ähm, also…“, hatte er das Gespräch eher weniger eloquent eröffnet, „wie… habt ihr euch eigentlich nochmal… kennengelernt?“.
Nachdem er seine Frage herausgebracht hatte, hatte er den Blick schnell auf den Teller vor ihm gerichtet. Er war sich sicher, dass seine Mutter Gedanken lesen konnte und bei seinem Blick sofort hätte erahnen können, worum es ihm eigentlich ging. Doch sie kannte ihn sogar noch besser als er es sich erhofft hatte.
„Ich wusste es!“, hatte sie sofort geantwortet und Messer und Gabel beiseite gelegt.
Oh nein, dachte Marvin. „Was wusstest du?“, hatte er unschuldig gefragt und dann beleidigt zu seinem Vater gesehen, der angefangen hatte, breit zu grinsen.
„Komm schon“, sagte der. „Wer ist es, jemand aus der Schule?“
Resignierend hatte Marvin sich seinem Schicksal übergeben. An diesem Punkt hätte ihn eine Lüge auch nicht weitergebracht. Seine Eltern hätten sowieso bald herausgefunden, wen er toll findet. Bis dahin hätten sie vermutlich sehr viele unangenehme Fragen gestellt.
„Joey“, hatte er genuschelt und dann versucht, die aufkommende Scham mit einem Schluck Wasser herunterzuspülen. Er war sich sicher gewesen, dass sich eine Debatte über Beziehungstipps und Safer Sex über ihm zusammenbraute. Doch es kam anders, zumindest vorerst.
„Na, dann ändert sich für uns ja rein gar nichts“, kommentierte sein Vater die Antwort. „Ihr hockt doch eh ständig zusammen.“
Da hatte sogar Marvin drüber lachen können. Sein Vater hatte recht. Sie trafen sich mehrmals die Woche, mal bei ihm, mal bei Joey, erledigten die Hausaufgaben, gingen mit Natascha raus zum Fußball spielen oder zockten am PC. Wenn sie nicht physisch zusammensaßen, spielten sie online und unterhielten sich stundenlang über den Voice Chat.
Der Bus fuhr um eine scharfe Kurve und rüttelte Marvin dabei aus seinen Gedanken. Irgendwas musste Joey an Marvin liegen, sonst würden sie nicht so viel zusammen rumhängen. Egal, wie es gleich kommen würde, sie würden sich zusammenraufen, ob als Freunde oder… mehr.
Sein Herz pochte ihm bis zum Hals, als er den Stopp-Knopf drückte. Wenig später kam der Bus zum Stehen. Marvin sah, dass Joey sich direkt an die Hintertür gestellt hatte. So sollte es also sein. Die Fahrt im Bus war die letzte Fahrt, der Schritt hinaus der letzte Schritt, den er würde machen müssen, bevor er vielleicht erfahren würde, was Zurückweisung bedeutet. Oder aber es war der letzte Schritt eines 16-jährigen, der bald wusste, was es heißt, einen festen Freund zu haben.
Circles

Design: erstellt mit Canva
Mein E-Book „Circles“ ist ab jetzt im Online-Buchhandel eures Vertrauens erhältlich! Die ISBN lautet 978-3-7541-7905-5.
Das Buch umfasst insgesamt neun fantastische Kurzgeschichten. Entstanden ist es durch das Projekt „InSzene – eine Hörgeschichtensammlung“. Circles lautet der Name der ersten Staffel. Wer die Geschichten lieber hören möchte, findet hier und auf Spotify etwa alle zwei Wochen einen neuen Upload.
Inhalt:
Für seine Ausbildung zum Geschichtenhüter soll sich der junge Abubakar mit „Circles“, einem unscheinbaren Büchlein aus der Bibliothek von Sarandis beschäftigen. Die sieben darin befindlichen Kurzgeschichten handeln von unterschiedlichen Schlüsselmomenten im Leben der Protagonisten, deren Wege teilweise miteinander verbunden sind. So geht es etwa um die Erlebnisse der Kolkrabin Lorana, die sich nach einem schmerzhaften Verlust von den Menschen abwendet und nach einem neuen Lebensraum sucht.
Übrigens: Wer sich eine zweite Staffel der Hör- und Lesgeschichten wünscht, kann mich unterstützen! Entweder indirekt durch einen Kauf der E-Büchleins im Buchhandel seines Vertrauens oder mit einer Donation über Paypal. Das ist natürlich kein Muss.
Viel Spaß beim Lesen und Hören!
Über Fäden und Spinner
Der folgende Text ist von 2019. Ich habe ihn in der Zeit geschrieben, in der ich mich auf meine Selbstständigkeit vorbereitet habe. Kurz davor hatte ich mein Volontariat beendet. Für dieses hatte ich 2017 einen Vertrag unterschrieben, in dem festgehalten worden war, dass es im Anschluss keine Übernahme geben würde. Was für ein Glück!
Was würde so manch einer um einen Faden geben, der so reißfest ist, wie das Leben dauert. Doch so ein Faden ist heutzutage oft nur ein, vielleicht zwei Jahre lang, und teilweise so dünn, dass man schon genau schauen muss, wo man hin greift, um nicht herunterzufallen.
Doch auch Fäden, die manchmal zehn oder zwanzig Jahre in eine Richtung streben, reißen irgendwann vielleicht, und festhalten will man sich an ihnen auch nicht immer. Vor allem nicht, wenn der Griff schwächer wird und die Hängenden um einen herum Dinge denken und sagen, wie: „In zwei Jahren geht die sowieso“.
Oder, wenn man noch jung ist, und dieselben Hängenden erzählen, dass man ja doch keinen dieser ausgedünnten Lebensabend-Fäden mehr abkriegt, die jetzt die Alten in Ermangelung anderer Möglichkeiten an ihr vierzig Jahre altes Geflecht hängen. Die Zynischen unter ihnen sehen ihn auch als festen Strick, an dem sie dann am Ende baumeln. Abgeben an Fadenlose wollen sie von ihrem eigenen Halt, über den sie nur allzu oft meckern, lieber trotzdem nichts.
Wie ist es denn jetzt wirklich? Da nimmt man doch, was man kriegen kann. Egal, wie dünn es ist. Denn man möchte ja nicht ins Loch rauschen. Dann doch lieber Niedriglohngeflechte aus undankbarem Material. Mit der antiproportionalen Formel: Je sozialer die Tätigkeit, desto schlechter die Griffigkeit.
Von diesen Fäden nehmen sich einige nicht nur einen. Nein, da nimmt man sich den einen und knüpft ihn an den nächsten, bekommt mal ein Stück geliehen, einige geschenkt, von denen, die man vorher in Gemeinschaftsarbeit erschaffen hat. Und versteht mich nicht falsch, es ist schön, dass es solche Fäden gibt. Doch sollten nicht die Fäden, die wir weben, immer auch zum Überleben nützlich sein, und denen, die nicht mehr weben können, einen Halt bieten?
Denn bedenkt, manchmal hängt noch jemand anderes daran, vielleicht sogar zwei oder drei, die von zwei oder nur von einem sehr dünnen Faden gehalten werden. Und diese anderen, die sich mit festhalten, lassen – Gott sei Dank – nur die wenigsten fallen.
Manchmal kommt es vor, dass wenn die Fäden enden, sich die Menschen aufmachen, und keinen dieser hingehaltenen nutzen oder schlicht keinen bekommen können. Diese fangen dann das Spinnen an. Das kann schiefgehen, denn das Netz unter diesen Spinnern ist anfangs durchaus dünner als unter denen, die sich an Fäden hängen, die von etablierten Konzernen hingehalten werden.
Aber es könnte auch sein, dass man sich an solchen Fäden irgendwann doch ganz gut festhalten kann. Vielleicht kann man sogar einige Unterfäden abgeben und selten sogar Traumautos und Immobilien dranhängen.
Doch sollte man gerade zu Anfang vorsichtig sein, denn da halten sie manchmal kaum das eigene Selbst.
Und doch:
So ein selbstgesponener Faden, auch ohne Traumautos und Immobilien, dafür aber mit genügend freiem Schwung, sieht für manche ganz verlockend aus. Und ist oft länger als so ein Zwei-Jahres-Faden, unter denen die Netze zwar dicker, aber auch nicht ewig haltbar sind. Auch mich hat das verlockt. Deshalb bin ich Spinerin – und gebe gern an Fadenlose ab.
Denise McConnell